Fluff and Cheese


Kapitel 2

Der einzige Vorteil, den Forks gegenüber Italien hatte, war, dass die ungewohnte Umgebung das Laufen interessanter machte. Die hohen Bäume der endlosen, immer feuchten Wälder boten Edward die ideale Gelegenheit, um sich seiner vollen Schnelligkeit hingeben zu können, über den Boden zu fliegen und kreuz und quer zwischen den Stämmen hindurch zu schlüpfen. Edward glaubte, schon als Mensch schneller als alle anderen gewesen zu sein, aber selbst wenn nicht, dann war er es jetzt. Keiner hatte es je geschafft, ihn einzuholen. Die Distanz von Bella zu dem Haus der Cullens überbrückte er deswegen ebenso innerhalb weniger Minuten. Er würde sich zurückziehen und alle Fakten ordnen. Dann würde er eine perfekte Angriffsstrategie entwickeln, bis der Moment endlich gekommen wäre, an dem er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte.

Als er vor der Veranda abrupt zum Stehen kam, flogen die Blätter um ihn herum auf. Aber er achtete nicht weiter auf sie und betrachtete stattdessen das große, abstrakte Gebäude. So sehr er ihren Wunsch nach Einmaligkeit, Stil und Luxus auch nachvollziehen konnte – ein derart modernes Haus mitten im Wald, noch dazu in einer solchen Kleinstadt, schrie nicht unbedingt nach Diskretion.
Und das gerade bei den Cullens, die trotz Aros Aufhebens der obersten Regel der Vampire – das unerkannt Bleiben –, die Geheimniskrämerei immer noch nicht abgelegt hatten. Edward war die Intention dahinter, unter Menschen zu leben, anstatt endlich diese neue Freiheit zu genießen, bisher schleierhaft geblieben.

Macht. Das war alles, wonach die Führer der Königsfamilie der Vampire, Aro, Caius und Markus noch strebten, seit Aro seine Armee als vollständig erachtete. Geschöpfe ihrer Art besaßen die unterschiedlichsten Fähigkeiten: Zufügen von Schmerz, Lähmung oder Verwirrung; Ausüben von Schutz; dazu seherische Fähigkeiten wie Einblicke in die Zukunft, die Vergangenheit, Gedanken, Gefühle oder Schwächen und nicht zu vergessen körperliche Stärken und Besonderheiten. Seit Edward den Volturi beigetreten war, hatte er Aro dabei beobachtet, wie er einen begabten Vampir nach dem anderen rekrutiert hatte. Nie hätte er gedacht, dass seine Sammelleidenschaft irgendwann ein Ende finden würde. Aber der kampflustige Caius hatte es geschafft, ihn davon zu überzeugen, dass sie es getan hatte – und mit ihr die Entscheidung, im Untergrund des jahrtausendalten Volterra zu verharren.

Wäre Edward dumm und naiv wie manch anderer der italienischen Stadt, hätte er angenommen, dass es kaum noch andere Vampire in der Welt gab. Doch er war weder dumm, noch naiv und so hatte er sofort verstanden, dass hinter dem plötzlichen Aufbegehren ans Tageslicht der drei Anführer noch etwas anderes außer neuer Lebensqualität stecken musste. Zusammen mochten sie vielleicht eine mächtige Armee von Untoten gegründet haben, doch das machte sie noch lange nicht unbesiegbar. Noch gab es Kräfte, die sie fürchten oder wenigstens ernst nehmen mussten.

Dazu gehörten verschiedene Clans Ihresgleichen, wie beispielsweise eine Gruppe Frauen in Alaska oder eine andere in Ägypten. Auf die und noch ein paar kleinere Nomadengruppen waren wie Edward Mitglieder der Garde angesetzt worden. Nach und nach wurden sie vor die Wahl gestellt: Entweder sie wurden Teil der Volturi oder Teil der Erde, auf der sie standen.

Doch Edward war zur Olympic-Halbinsel geschickt worden. Hier lauerte eine Bedrohung gesonderter Stufe; eine Gefahrenquelle, die niemand einzuschätzen wusste: Werwölfe. Getarnt als Menschen; geschaffen, um Vampire zu vernichten. Ein ganzes Rudel hatte sich an den Ufern Washingtons ausgebreitet. Und mehr noch: Da sie mit diesen Kötern in vertragliche Übereinkünfte verwickelt waren, stand auch die Cullen-Familie in Edwards Fokus.

Diese sechs Vampire bewohnten das Haus vor ihm. Es waren drei Paare, die sich in Forks als Familie mit Pflegekindern ausgaben. Edward schüttelte über diese Lüge schon wie viele Male den Kopf. Seit Aro die Bewahrung der Geheimhaltung aufgehoben hatte, brauchte sie sich nicht mehr verstecken. Doch diese sechs Kreaturen lebten trotzdem weiter unter einem Deckmantel. Und dann auch noch ein Vertrag mit Wölfen – Edward schnalzte mit der Zunge – hätte er es nicht selbst gesehen, würde er es nicht glauben. Keiner seiner Art sollte sich derart degradieren lassen, mit solchen Bastarden kooperieren zu müssen.

Die Cullens ließen sich nicht zuordnen; Caius und Aro konnten sich ihrer Treue nicht bewusst sein. Edward wusste, dass sein Anführer noch immer auf eine alte Freundschaft, die ihn mit Carlisle, dem Führer des Cullen-Clans, einmal verbunden hatte, baute. Doch Edward hatte die sechs erlebt. Er wusste es besser. Solange Forks noch nicht unmittelbarer Schauplatz geworden war, schienen sie sich immer noch die Hoffnung zu bewahren, sich heraushalten zu können. Welch dummer Gedanke, wo er, Edward, doch schon hier war. Zum ersten Mal seit Tagen lachte er leise in sich hinein.

Er war nicht nur zu gut, um als Späher mittelklassigen Blutsaugerfamilien hinterher zu jagen, sondern er war aus einem ganz bestimmten Grund für diese Mission ausgewählt worden: Er hatte in Forks noch eine offene Rechnung zu begleichen. Und er würde nicht gehen, bis nicht der letzte Cent davon bezahlt worden war.

Aber sein Lachen erstarb in der Sekunde, in der er seinen Namen aus dem Inneren des Hauses hörte. Sein Geruch hatte ihn schon lange angekündigt, weswegen er bereits seit einigen Minuten durch die Köpfe der Cullens wanderte. Er sah sein eigenes Gesicht aus den verschiedensten Blickwinkeln; seine beobachtende Miene und wie die anderen unter seinen stechenden Augen unruhig wurden.

Die kleine Hellseherin, Alice, hatte vorhin eine Vision gehabt, in der er über Bellas toten Körper gelehnt hatte, die sie beim Gedanken an ihn erneut durchlebte. Innerhalb von Sekunden verwandelt sich das Bild jedoch zu einer völlig harmlosen Momentaufnahme des lachenden Mädchens – Edward hatte mal wieder eine Entscheidung getroffen. Er verfolgte ihre Erinnerungen für ein paar Sekunden, die eine darauf gefolgte Zukunftsaussicht offenbarte: Edward rannte durch den Wald, kam auf einem Felsvorsprung zum Stehen und blickte auf eine in Trümmern liegende Stadt hinunter – Forks.

Natürlich wussten sie bereits, was sie erwartete. Noch standen Ägypten und Alaska vor ihnen auf dem Plan, aber nicht mehr lange und die Volturi würden durch den nebelbehangenen Wald marschieren. Und die Cullens würden sich entscheiden müssen.

Edward war froh, dass Alice seine eigenen Interessen bisher wohl mehr oder weniger verborgen geblieben waren, was wohl größtenteils darin begründet lag, dass er bisher so planlos vorgegangen war. Glücklicherweise schienen sie sich noch nicht daran gewöhnt zu haben, ihre eigenen Gedanken im Auge zu behalten, seit sie ihn aufgenommen hatten, sodass er problemlos vieles hören konnte, was sie ihm verheimlichten.

Natürlich war ihr Grund, ihn überhaupt bei sich aufzunehmen, ihn im Auge zu behalten. Sie waren nett, verhielten sich höflich und beschimpften ihn in ihren Gedanken nur in den seltensten Fällen, aber Edward hatte lange genug unter den Volturi gelebt, um zu wissen, was hinter solchen Oberflächen verborgen lag. Vor ihm konnte man keine Geheimnisse bewahren. Er behielt sie im Auge.
Bisher vermochte er noch keine überdeutliche Angst aus ihren Köpfen herauszulesen, aber dann gab es unter ihnen auch diesen Gefühlsmanipulatoren, Jasper, der da höchstwahrscheinlich seine unterdrückenden Finger im Spiel hatte.

„Wir hätten ihn vernichten sollen, als wir die Möglichkeit dazu gehabt haben“, flüsterte Emmett, ein Vampir so groß und breit wie ein Schrank, in diesem Moment. Edward hörte und roch, dass sie sich alle in der Küche versammelt hatten und offensichtlich darauf warteten, dass er das Haus betrat.
„Psst“, machten Alice und Jasper gleichzeitig. Carlisle antwortete so leise, dass Edward sich konzentrieren musste, um alles zu verstehen.
„Er hält sich immerhin von den Menschen fern, seit er bei uns wohnt. Wir sollten ihm genauso viel Vertrauen entgegen bringen wie uns. Er verbringt sogar fast jede Nach bei Isabella Swan und seht euch an, wohin das bis jetzt geführt hat. Jasper sagt, sie liebt ihn.“
„Ja, bis er seine Zähne irgendwann in ihrem Hals stecken“, murmelte Emmett. Alice blieb trotz ihrer Vision still. Sie wusste wie Edward, dass das stets eine mögliche Option war. Emmett fuhr fort: „Du findest das doch nicht etwa gut, oder? Sie ist ein Mensch! Er ist einer der Volturi! Ich würde die Kleine noch eher Jasper anvertrauen als ihm. Nichts für Ungut, Alter.“
Jasper schüttelte nur den Kopf; sie alle – Edward eingeschlossen – wussten, dass ihm die Nähe der Menschen immer noch am schwersten fiel. Sogar Edward hatte sich besser im Griff und das, obwohl er die letzten dreißig Jahre unterirdisch verbracht hatte. Da machten sich seine Erfahrungen als Kundschafter die dreißig Jahre davor positiv bemerkbar.

„Er sieht so einsam aus“, mischte sich Esme ein und für einen Moment fühlte sich Edward, als würde er erstarren, obwohl er sich in den letzten Sekunden ohnehin keinen Nanometer gerührt hatte. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber von allen Cullens hielt er auf sie die größten Stücke. Sie war nicht übermäßig schön wie die blonde Rosalie, Emmetts Gefährtin, und hatte auch keine besonderen Fähigkeiten wie Alice oder Jasper, aber sie war gut. Sie ließ die wenigen Fragmente seiner Erinnerungen an seine Mutter wieder in seinem Kopf auftauchen und das war, wenn auch ungewohnt und damit ein wenig befremdlich, irgendwie… schön.

Zusammen mit Carlisle Cullen hatte Esme ihm vorgeführt, dass man als Vampir mit dem Schweigen des Herzschlags nicht zwingend auch seine Menschlichkeit einbüßen musste. Nicht, dass er sich wünschte, wie sie zu sein, aber dieser Anblick war trotzdem ein höchst seltenes Phänomen.
Edward wusste, wer er war und vor allem, was er war. Ein Untoter, ein Seelenloser, ein Mörder, ein Monster. Er hatte an die dreißig Jahre gebraucht, um sich an diesen Umstand zu gewöhnen, aber selbst ein Vampir passte sich irgendwann an – wie ein Fels, der in einem Flusslauf seine Kanten verlor. Akzeptanz war das Schlüsselwort. Edward hatte akzeptieren müssen, dass es für ihn weder Ziele, noch Enden, noch Unmöglichkeiten gab, genauso wenig wie Moral oder Ethik. Dafür war er ein Vampir. Und doch waren hier zwei seiner Art, die mehr Menschlichkeit vertraten als manche dieser Blutenden selbst.

Bis er nach Forks gekommen war, war er ausschließlich von seinesgleichen umgeben gewesen, die nur an sich dachten. In einer Welt wie ihrer galt endlich wieder die Devise des Stärkeren, der überlebte. Und der Stärkere war der, der sich nicht mit anderem Ballast erdrückte.

Doch hier schien das völlig zweitrangig zu sein. Diese sechs Vampire, die im Moment lediglich durch eine Betonwand von ihm getrennt wurden, glaubten mit ihrem ganzen jämmerlichen, unsterblichen Sein an die Macht der Liebe. Carlisle Cullen praktizierte sogar als Arzt! Allein der Nächstenliebe wegen! Würde Edward Esme nicht mit einem Hauch Respekt begegnen, hätte er erneut gelacht. Diese Vampire waren wirklich die seltsamsten, die er jemals getroffen hatte.

Die Mutterfigur des Clans setzte derweil fort: „Ich glaube, er hat keinen Ort, wo er richtig hingehört. Er hat keine Familie.“
Rosalie schnaubte. „Ich denke, die Volturi würden auf einer Familienfeier zahlenmäßig gut Eindruck schinden. Dieser Edward hat in seiner Armee mehr Freunde, als es irgendjemand von uns in seinem menschlichen Leben je gehabt hat.“
Edward sah durch die Augen der Blonden, wie Esme ihr einen warnenden Blick zu warf. „Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde. Ich bin sicher, wenn wir ihn nur überzeugen können, Teil unserer Familie zu werden, dann kann er uns helfen, Aro von seinem Vorhaben abzubringen. Wir müssen nur weiter versuchen, ihn zu integrieren. Ihn fühlen zu lassen, dass wir ihn nicht ablehnen. Akzeptanz ist das Schlüsselwort.“

In diesem Moment wäre es Edward nur Recht gewesen, wenn sie ihn hätten lachen hören, doch das Geräusch steckte ihm in der Kehle fest. Bevor sie weitersprechen konnte, betrat er auch schon die Küche.

„Guten Abend meine Lieben“, säuselte er. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, während die sechs in ihrer kreisförmigen Formation erstarrten.
„Guten Abend, Edward“, grüßte ihn Carlisle höflich zurück.
„Wir haben uns schon gefragt, wann du reinkommst“, murmelte Jasper.
„Ach, habt ihr das?“ Edward neigte den Kopf ein wenig. „Ich habe ja so einiges gehört, aber diesen – berechtigt vorsichtigen – Gedanken bedauerlicherweise nicht.“
„Möchtest du auf etwas Bestimmtes hinaus, Edward?“, fragte Esme und trat einen Schritt auf ihn zu. Einen kurzen Moment sah er sie lediglich an. Er wünschte, sie würden sich nicht so dumm verhalten. Er wünschte wirklich ein kleines bisschen, dass er das jetzt nicht tun müsste.

„Sehr freundlich und rücksichtsvoll von dir, dass du fragst. Denn ja, es gibt tatsächlich etwas, was mir auf dem Herzen liegt.“ Er sagte es ganz ruhig und genoss dabei den Effekt, den er immer noch auf die anderen Vampire hatte. Sie ahnten, dass etwas in ihm schlummerte, das niemand zu beherrschen vermochte, und das ängstige sie. Zu recht.

„Ich frage mich“, begann er, „ob ihr euch im Klaren darüber seid, in welcher Gefahr ihr euch befindet.“ Einen kurzen Moment überlegte er, ob er seine Worte dadurch unterstreichen sollte, irgendetwas zu zerstören, aber er entschied sich dagegen. Demonstration von Stärke schüchterte einen Vampir nicht mehr ein. Stattdessen beschränkte er sich darauf, jeden einzelnen von ihnen zu mustern. Erst Jasper, dann Rosalie, Emmett, Esme, Alice und schließlich Carlisle. „Aro kommt und er kommt bald. Und was ich bisher aufgeschnappt habe, wird ihm nicht gefallen.“
„Wir haben nie gegen die Regeln der Volturi verstoßen. Ich wüsste deswegen nicht, weswegen wir uns Sorgen machen sollten“, entgegnete Carlisle. „Aber ich befürchte vielmehr, dass das kaum mehr eine Rolle spielen wird. Und dass es dann nicht mehr nur uns und Aro betrifft.“
Edward wusste, dass nun sein Moment gekommen war. Er legte eine kurze Pause ein und bevor er antwortete, lächelte er. „Ganz genau.“

Esme japste nach Luft und fasste ihrem Gatten am Arm, Jasper griff nach Alice‘ Hand und Emmett knurrte Edward von der Seite an. Carlisle straffte die Schultern und wich seinem Blick nicht aus.
„Deswegen frage ich mich, wie ihr auf die hirnverbrannte Idee kommt, Mutmaßungen über mich, als eure einzige Chance und Mittelsmann, anzustellen, anstatt alles in eurer Macht stehende zu tun, um mich zufrieden zu stellen?“
„Aber Edward“, hauchte Esme, kam auf ihn zu und griff nach seinen Händen. Mit flehendem Blick sah sie zum ihm hinauf. „Genau das tun wir doch.“
Edward sah auf sie hinunter und erwiderte ruhig: „Fass mich nicht an.“
Damit machte er sich von ihr los, drehte er sich um und verließ das Haus.


Hinterlasse einen Kommentar